Der Begriff „Naturreligion“ ist ein historisch belasteter und wissenschaftlich problematischer Terminus. Seine Entstehung und Verwendung hängen eng mit den Entwicklungen der europäischen Religionswissenschaft und Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts zusammen.
Kolonialzeit
„Naturreligion“ wurde in der Aufklärung und im Kolonialzeitalter als Gegenbegriff zur „Offenbarungsreligion“ geprägt. Theologen und Philosophen – etwa Immanuel Kant oder Friedrich Schleiermacher – stellten Religionen, die nicht auf einer schriftlich fixierten göttlichen Offenbarung beruhen, in Gegensatz zum Christentum. „Naturreligion“ sollte beschreiben, dass diese Religionen aus der „Natur“ des Menschen hervorgehen, ohne göttliche Eingebung oder schriftliche Tradition. Damit war der Begriff von Anfang an abwertend konnotiert: Er kennzeichnete Religionen als früh, unvollkommen, primitiv – lediglich eine Vorstufe zur „eigentlichen Religion“.
Im Zuge der Kolonialexpansion Europas griffen Missionare und Kolonialbeamte diesen Begriff auf, um Religionen in Afrika, Amerika, Asien oder Ozeanien zu klassifizieren. Er diente dazu, kolonialisierte Kulturen als geistig rückständig darzustellen und das eigene Missions- und Herrschaftsprojekt zu legitimieren.
Konzept
Das Konzept „Naturreligion“ ist zutiefst eurozentrisch:
• Es setzt das Christentum als Maßstab, an dem andere Religionen gemessen werden.
• Religionen ohne Buch, kanonische Lehre oder zentralisierte Institutionen wurden als defizitär gedeutet.
• „Natur“ wurde als Gegensatz zu „Kultur“ und „Zivilisation“ verstanden, womit diese Religionen pauschal als unentwickelt galten.
Darüber hinaus beförderte der Begriff stereotype Vorurteile, die bis heute wirksam sind: Die Vorstellung, „Naturvölker“ würden „Steine anbeten“ oder „Bäume verehren“. Diese simplifizierenden Klischees finden sich besonders in älteren theologischen Schriften und haben das Bild indigener Religionen bis ins 20. Jahrhundert geprägt.
Naturreligion als abwertender Begriff
Wenn heute noch von „Naturreligion“ gesprochen wird, wird unbewusst diese koloniale Abwertung reproduziert. Der Begriff suggeriert:
• dass die betreffenden Religionen irrational seien,
• dass sie lediglich Objekte oder Naturphänomene anbeten,
• dass ihnen die „Höhe“ und „Reife“ großer Buchreligionen fehle.
Damit transportiert der Ausdruck auch heute noch eine christlich-theologische Vorrangstellung und fördert Vorurteile anstatt differenzierter Wahrnehmung.
Um- bzw. Neubewertung
Moderne heidnische Bewegungen wie Ásatrú, Druidentum oder Wicca verstehen sich nicht als „Naturreligionen“ im Sinne dieser alten Klassifikationen. Zwar spielt die Natur in Ritualen und Symbolik eine zentrale Rolle, doch diese Bewegungen sind:
• bewusst reflektiert: Sie entstehen in modernen Gesellschaften und setzen sich aktiv mit Geschichte, Mythologie und Philosophie auseinander.
• pluralistisch: Sie integrieren Traditionen, Mythen und Praktiken aus unterschiedlichen Epochen und Regionen.
• selbstbestimmt: Sie treten nicht als „Überreste primitiver Kulte“ auf, sondern als zeitgenössische Religionsformen mit eigenen theologischen und spirituellen Ansprüchen.
Den Begriff „Naturreligion“ zu verwenden, hieße also, moderne heidnische Religionen in dieselbe Schublade zu stecken wie die abwertenden Klassifikationen kolonialer Theologen. Dies widerspricht dem Selbstverständnis und fördert Missverständnisse im interreligiösen Dialog.